Der Mann mir gegenüber schläft… Nee – nicht nur so mit – Kopf zur Seite abgeknickt und leise schnarchend und auch nicht mit – Kopf im Genick und laut röchelnd…
Nee – dieser hier liegt über einen Rucksack geworfen. So als würde er im Schlaf den Rucksack bewachen. Er umarmt ihn und nutzt ihn gleichzeitig als Kopfkissen. Sieht gemütlich aus.
Ganz leise bin ich beim Hinsetzen und sehr glücklich darüber, dass ich heut keine Rauscheljacke anhabe. Mit der ist kein Anschleichen möglich. Und leise hinsetzen fällt sowieso aus.
Ich betrachte den schlafenden Mann und schäle mich still aus meiner Jacke.
Was mag der erlebt haben, dass es ihn so tief in den Schlaf gezogen hat…? Ich würd ihn fragen, wenn er denn wach wäre… aber eigentlich gehts mich ja nichts an…. wissen würde ich es halt trotsdem gern… ich sinniere noch ein wenig darüber, ob ich fragen sollte oder nicht – da erreicht mich ein ganz fürchterlicher Gedanke: LEBT der überhaupt noch…???
`Du schaust definitiv zu viele crime Serien, Charlotte`, kommt´s trocken vom KLEINEN HINTERMIR…`Jetzt mach mal halblang – HM, echauffiert sich mein KLEINES VORMIR, `der Mann liegt da tatsächlich seit exakt 11 Minuten und bewegt sich kein Stück. Schnarcht nicht, röchelt nicht – zuckt nicht mit den Fingern – klar kann der tot sein. Wär ja nicht der erste Tote im Zug…`
In diesem Augenblick schreckt der Mann auf …(habe ich mal wieder laut gedacht und ihn damit von den Toten auferstehen lassen…?) Verwirrt schaut er um sich und fragt mich, mit nicht einzuordnendem Akzent, wo wir gerade wären. Ein fetter Abdruck der Rucksackschnalle prangt auf seiner linken Wange. Ich sag ihm, wo wir sind – aber nicht, dass er einen fetten Abdruck seiner Rucksackschnalle auf der Wange hat. Kann er eh nix gegen machen – beult sich von allein wieder aus – braucht halt nur Zeit.
Mit riesigen Augen schaut er mich an: „ich habe dich gar nicht gehört…“ Äh – ist das jetzt ein Vorwurf, frage ich… „Oh nein – mir war nicht bewusst, wie tief ich geschlafen habe…“
Mehr sagt er nicht und ich trau mich auch nicht nach Mehr zu fragen. Er kramt in seinem Rucksack und holt ein Heft heraus. Es sieht aus, wie das Charlotte Heft. MEIN Charlotte Heft… Aber das kann nicht sein. Meins liegt noch in der Tasche..
Seine Seiten sind mit einer kleinen, gestochen scharfen Schrift gefüllt. Mal mit blauer Tinte – mal mit schwarzer. Absolut unleserlich – so auf dem Kopf… Er versenkt sich in die Seiten – liest, hält inne, lächelt, liest weiter. Nebenbei stösst er auf einen schwarzen Stift im Rucksack und beginnt Passagen einzukreisen.
Zum ersten Mal bleibt mein Charlotte Heft in der Tasche. Dieser Moment gehört SEINEM Schreiben. MEIN Schreiben beginnt später. Gedanklich setze ich kleine Stichpunkte – hoffe, dass ich die Worte noch im Kopf habe, wenn ich mich heute Abend an den Laptop setze. WENN…
Das ist ein dickes WENN – ich weiß… Nicht jede meiner vielen Fahrten erlebt was. Und manches, was ich erlebe – findet seinen Weg nicht bis hierher. Mal abgesehen davon ist der Akt des Schreibens ein Akt des WILLENS und ein AKT des KÖNNENS.
Manchmal will ich – kann aber nicht. Und manchmal könnte ich – will aber nicht.
Heißt:
Wann immer sich – seltsame, skurrile, verrückte, liebevolle oder abgedrehte Charlotten erleben lassen, schreibe ich darüber – manchmal dauert´s eben einfach etwas länger…
Liebe MCharlotte,
Na ja, Schreiben verlangt Überlegung über Erlebtes oder Künftiges. Wegen allerlei Umstände lässt sich Erlebtes oder Künftiges schwer niederschreiben. DAS überwindest du jedesmal am besten….Liebste Grüsse….
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