…das ist der Moment, den ich immer ein wenig gefürchtet habe. Es ist Dienstag und ich war einfach zu wenig unterwegs. Also zu wenig dafür, dass was passiert. Und damit widerlege ich meinen eigenen Text. Von wegen: irgendwas passiert immer… Phhhh…
Liegt natürlich auch daran, dass ich alte Gewohnheiten wieder aufgenommen habe: ich lese. In einem Buch. Kindle mag ich nicht. Hab ich noch nie probiert. Mag ich trotzdem nicht. Ich muss dran riechen können an den Seiten. Lass meine Finger über den Einband streifen. Ist ein Paperback und doch ganz samtig.
Es gibt Bücher, deren Bücherdeckel mit Abstand die besten Teile sind. Sagt Charles Dickens. Dieses hier gehört eindeutig in die andere Kategorie. Dazwischen ist wunderbar. Und es hat auch noch das Wunder im Titel. Normalerweise – IMMER – mache ich um Bücher oder Filme mit dem Namen „Wunder“ im Titel einen riesigen Bogen. Fass ich nicht an. Schau ich nicht an. Nee… Ich habe viel zu großen Respekt vor Wundern als dass ich profan darüber lesen möchte. Mal abgesehen davon hat ja jeder seine eigenen Vorstellungen von Wunder. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Ansprüche ganz weit oben an der Messlatte zu finden sind.
Nun ja – dieses Buch bekam ich geschenkt. Mit strahlenden Augen und dem berühmten Satz: „das musst du unbedingt lesen…“ Und auch dieser Satz hält mich dringend davon ab, der Aufforderung nachzugehen.
Irgendwann sitze ich in der Bahn, habe nix zu tun und das Buch – ich weiß immer noch nicht, wie das passieren konnte – taucht beim Kramen nach einem Taschentuch aus den Tiefen meiner Tasche auf.
Okeeeee, denke ich. Hast du es bis hierhin geschafft, kriegst du eine Chance.
Ich beginne zu lesen und befinde mich auf der Basisstation des Mount Everest. Mir werden die Hiobsbotschaften von toten Sherpas und abgestürzten Expeditionsteilnehmern um die Ohren gehauen. Dem Protagonisten geht es so schlecht, dass ich mich frage, ob es sich hier um eine Besteigung oder eher um einen Nachruf handelt. Nach mehreren Seiten blättere ich zurück an den Anfang und lese mit ganz anderen Augen den ersten Satz:
Das Gestern stand klar vor ihm, das Soeben verschwand, zerfloss, ungreifbar und verbraucht.
Bin mir nicht sicher, ob ich gerade gegen das Urheberrecht verstoße. Egal. Sicher ist, dass ich dieses Buch lese und lese und lese. Wer bitte ist Thomas Glavinic?
Beim Recherchieren in meinem Telefon streift mein Blick durch den Waggon. Irgendwas ist seltsam. Es braucht einen Augenblick bis mir auffällt, dass jedes Abteil mit nur einer Person besetzt ist. Und alle sitzen sie in Fahrtrichtung am Fenster. Ich schau mich um. Hinter mir das gleiche Bild. Ich glaub´s nicht. Schaut aus, wie choreografiert. Und ich bin ein Teil davon.
Langsam lasse ich mein Telefon sinken. Meine Finger streichen über das Einbandbild.
Der Mount Everest unter den verschiedenen Stadien einer Mondfinsternis.
„Das größere Wunder…“
Befinde ich mich grad in einem?
Liebe Charlotte. Wenn Fritz Wunderlich die Lieder von Schubert einstimmte, das war ja schon ein Wunder…..Sein Name ‚wunderlich – Wunderlichkeit‘ entspricht seinem Talent nicht!…
Es ist eine Wunderbarkeit und ich gratuliere dir dazu, dass du die richtigen Wörter findest, um uns dein Erlebtes in der Bahn zu vermitteln. Liebe Grüsse.
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